Ausblick auf das 2. Halbjahr 2024: Divergenzen, Dilemmas und Debatten

Carmignac | 11.06.2024 15:35 Uhr
Raphaël Gallardo, Chefvolkswirt, und Kevin Thozet, Mitglied des Investmentkomitees bei Carmignac / © e-fundresearch.com / Carmignac
Raphaël Gallardo, Chefvolkswirt, und Kevin Thozet, Mitglied des Investmentkomitees bei Carmignac / © e-fundresearch.com / Carmignac

  • Die wirtschaftliche Synchronisation ist einer Divergenz gewichen
  • In den USA beeinträchtigt die anhaltende Inflation die Lockerungsabsichten der Federal Reserve (Fed). Europa hat inzwischen mit Zinssenkungen begonnen. Japan muss auf einen kollabierenden Yen reagieren und Chinas Dilemma zwischen geldpolitischer Unabhängigkeit und Devisenstabilität erreicht einen Höhepunkt
  • Die geopolitische Fragmentierung vor dem Hintergrund eines angespannten US-Wahlkampfs wird sich wahrscheinlich beschleunigen und die hohen Bewertungen in Frage stellen
  • Es wird erwartet, dass die Finanzmärkte nicht mehr so linear verlaufen werden wie in den vergangenen sechs Monaten
  • In diesem Umfeld und mit dem Risiko eines erneuten angebotsbedingten Inflationsschocks im Jahr 2025 werden kürzere Laufzeiten von Staatsanleihen, Credit und eine Barbell-Strategie bevorzugt, die Inflationsabsicherungen und ausgewählte Qualitätsaktien mit geringem Risiko kombiniert

Wirtschaftliche Perspektiven

Von Raphaël Gallardo, Chefvolkswirt

Das Jahr 2024 begann mit einer positiven Stimmung, aber die Hoffnung auf einen synchronen Aufschwung hat sich zerschlagen.

Das unterschiedliche Ausmaß der Inflationspersistenz und der Widerstandsfähigkeit des Arbeitsmarktes hat zu einer Divergenz des Reallohnwachstums in den Industrieländern geführt: anhaltende Beschleunigung im Vereinigten Königreich und im Euroraum versus Verlangsamung in Japan und den USA. Eine Synchronisierung findet nur im Aufschwung des verarbeitenden Gewerbes statt, was durch die jüngsten Unternehmensumfragen in Südkorea, Taiwan, Deutschland und Schweden bestätigt wird.

In den USA dürfte die Verbrauchermüdigkeit teilweise durch eine Wiederbelebung der Investitionen ausgeglichen werden, die durch industriepolitische Maßnahmen (Re-Shoring, Dekarbonisierung), Aufrüstung und den Wettlauf um die künstliche Intelligenz (KI) angetrieben wird. Infolgedessen ist eine unvollständige weiche Landung nach wie vor unser Hauptszenario und das Zeitfenster für zwei Zinssenkungen der Fed in diesem Jahr ist eng. Der zyklische Abschwung bedeutet jedoch, dass die Wirtschaft für US-Präsident Joe Biden bei den Wahlen im November eine Belastung darstellen wird. Ein roter Wahlsieg würde eine stagflationäre Politik einleiten (Zölle, Abschiebungen und ungedeckte Steuersenkungen, auch wenn Deregulierung das potenzielle Wachstum ankurbeln würde). Im Gegensatz dazu ist der Euroraum ein ‘Sweet Spot‘. Die angebotsorientierte Disinflation und die verzögerte Aufholung der Löhne gegenüber der vorangegangenen Inflationsperiode ermöglichen es der Europäischen Zentralbank, die Zinssätze zu senken, während sich sowohl die Exporte als auch der Konsum langsam erholen. Der Rechtsruck bei den EU-Wahlen wird sich als Rückschlag für die grüne Agenda erweisen, aber das Re-Shoring durch eine erstarkte Anti-China-Agenda beschleunigen.

In Japan zeichnet sich ein weiterer Fehlstart ab. Der schwache Yen wird im September ein weiteres Opfer unter den japanischen Premierministern fordern. Die Abwertung des Yen schwächt die Kaufkraft der Verbraucher in einer Wirtschaft, in der die Rohstoffimporte 10 Prozent des BIP ausmachen und Waren und Versorgungsleistungen 50 Prozent des VPI-Warenkorbs ausmachen1. Der Policy-Mix sollte einen stärkeren Yen bewirken, um ein konsumorientiertes Wachstum in Gang zu setzen. Nach dem Scheitern der Devisenmarktinterventionen könnte die Bank of Japan die Option einer quantitativen Straffung nutzen.

Die chinesische Wirtschaft brummt dank kurzfristiger politischer Anreize immer noch, aber den Motoren der ‘neuen produktiven Qualitätskräfte‘ dürfte bald die Puste ausgehen: Die Exporte sind mit dem zunehmenden Protektionismus des Westens konfrontiert, die Kreditvergabe an den Industriesektor erreichte 2023 ihren Höhepunkt. Mittelfristig ist die Außenpolitik von Xi mit dem derzeitigen exportorientierten Entwicklungsmodell unvereinbar. China braucht negative Realzinsen, um seine internen Schulden zu tilgen, aber die daraus resultierende Abwertung des Yuan würde im Rest der Welt eine weitere protektionistische Gegenreaktion auslösen.

Abgesehen von innenpolitischen Problemen wird die Geopolitik die Volkswirtschaften in den kommenden Jahren jedoch antreiben. Wir sind in einen ‘Zweiten Kalten Krieg‘ eingetreten, der mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine begann. Es ist ein Handelskrieg, ein Finanzkrieg, ein konventionelles Wettrüsten und ein Technologiewettlauf. Wir rechnen mit einer Eskalation der Spannungen in der zweiten Jahreshälfte. Das neue geopolitische Paradigma schürt das Risiko angebotsbedingter Inflationsschocks, treibt aber auch einen Investitionszyklus voran, da die USA und China versuchen, sich gegenseitig bei Waffen und Technologie auszustechen.

Investmentstrategie

Von Kevin Thozet, Mitglied des Investitionsausschusses

Das hohe Niveau der Realzinsen, die ersten Anzeichen einer Konjunkturabschwächung und die Möglichkeit eines ‘Fed Put‘ im Falle einer drastischen Verschlechterung der Wirtschaftslage sprechen für eine allmähliche Erhöhung des Zinsniveaus. Die zurückhaltende Haltung des Fed-Vorsitzenden Jerome Powell, der die Lockerung der finanziellen Bedingungen trotz der offiziellen ‚High for longer‘-Haltung vorantreibt, zeigt, dass die Reaktionsfunktion der Fed konvex ist: Wenn die Inflation steigt, wird er die Zinssätze beibehalten, wo sie sind. Und wenn die Beschäftigung zurückgeht, wird er die Leitzinsen senken.

Bei den Staatsanleihen werden die zweijährigen Laufzeiten bevorzugt. Längerfristige Zinssätze könnten angesichts des optimistischen Disinflationskurses und der zunehmenden Staatsverschuldung in einer Zeit, in der die Währungsbehörden versuchen, 'Versicherungskürzungen' vorzunehmen und ihre Bilanzen zu reduzieren, unterdurchschnittlich abschneiden. An den Credit-Märkten sind die Prämien nicht mehr weit von früheren bzw. historischen Tiefstständen entfernt. In der Vergangenheit war die Kombination aus niedrigen Anleiherenditen und niedrigen Credit-Spreads nachteilig für die Anlageklasse, aber das derzeitige Umfeld mit höheren Renditen bedeutet, dass die Credit-Spreads als Kicker für die Anlegerrenditen und als Puffer für die Volatilität dienen.

Historisch gesehen waren in einem Umfeld, in dem die Preise von Aktien und Anleihen negativ korreliert waren, die Diversifizierungsvorteile von ‘risikoarmen‘ und ‘risikoreichen‘ Anlagen für die Portfoliokonstruktion wichtig. Infolgedessen hat Harry Markowitz'2 'effiziente Grenze' den Anlegern jahrzehntelang gut gedient. Doch wir befinden uns in einer neuen Welt. Die Korrelation zwischen Aktien- und Anleihekursen hat sich von negativ zu positiv entwickelt, als sich die Art der Inflation änderte. Die heutige Inflation (Rohstoffschocks, Unterbrechungen der Lieferkette, Embargos usw.) wird durch das Angebot und nicht durch die Nachfrage getrieben, was bedeutet, dass die Inflation auch dann bestehen bleiben kann, wenn die Gesamtnachfrage nachlässt, so dass die Effizienzgrenze nicht mehr konvex, sondern konkav ist, wodurch die Vorteile der Diversifizierung zunichte gemacht werden.

Um die Diversifizierung in den Portfolios wiederherzustellen, müssen die Anleger Inflationsabsicherungen wie Gold oder andere Rohstoffe sowie niedrig bewertete Aktien halten. Aber solche Absicherungen sind auch Anlagen mit hoher Volatilität. Sie sind dekorrelierende Vermögenswerte, aber nicht risikoarme Vermögenswerte. Daher müssen sie mit ‘risikoarmen‘ Qualitätsaktien wie Technologie- und Pharma-Mega-Caps kompensiert werden, die sowohl von einem hohen Gewinnwachstum als auch von einer oligopolistischen Position profitieren.

Eine Barbell-Strategie kann dazu beitragen, das Rekorrelationsrisiko anzugehen und ein solcher Ansatz kann in verschiedenen vielversprechenden Bereichen umgesetzt werden. Erstens im Bereich der KI– Wir kombinieren risikoarme Qualitätsaktien über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg mit Versorger- oder Energietiteln, die vom damit verbundenen Elektrifizierungsbedarf profitieren werden. Zweitens: Die ‘New Economy‘ hat Ausstrahlungseffekte auf die ‚‘Old Economy‘. Europa befindet sich in einer anderen Lage mit Aussichten auf eine zyklische Erholung, die noch nicht inflationär ist. Die Region ist weltweit führend in den Bereichen Gesundheitswesen und Basiskonsumgüter sowie in attraktiv bewerteten Sektoren, die dem Wirtschaftszyklus stärker ausgesetzt sind. Und drittens kann man versuchen, von der Ambivalenz der Anleger gegenüber den Schwellenländern zwischen dem beliebtesten und dem meistgehassten (aber investierbaren) Land zu profitieren. Indien – das beliebteste Land – verfügt über ein hohes potenzielles Wirtschaftswachstum, das durch Investitionen angekurbelt wird, und profitiert von der ‘China Plus One‘-Strategie der Unternehmen, die eine Diversifizierung in andere Länder anstreben. Dies dürfte sich in anhaltenden Unternehmensgewinnen niederschlagen. In China wiederum bieten mehr als 5.000 börsennotierte Unternehmen einen riesigen Pool an Möglichkeiten im Bereich der (Deep-) Value-Aktien.

Kurzfristig wird erwartet, dass die traditionelle Risikoparität bei der Portfoliokonstruktion zum Tragen kommt, aber da das Reinflationsrisiko steigt, sollte sich langfristig die Parität für das ‘Inflationsrisiko‘ durchsetzen. Eine solche Entwicklung sollte in Zukunft verstärkt in Anlagestrategien einfließen.

1 Quelle: Bloomberg, Juni 2024

2 Der Vater der modernen Portfoliotheorie

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